Die Wiedererlangung von Würde und Wohlbefinden in der psychischen Gesundheit
Autoren: Iñaki García Maza, Sergi Raventós
14/02/2025
Die Vorschläge eines Bedingungslosen Grundeinkommen oder der Vier-Tage-Arbeitswoche zeigen uns einen interessanten Weg auf, um über Lösungsvorschläge reiner öffentlicher Wohlfahrt hinauszukommen.
Der Begriff Polikrise ist heute en vogue und wird unter anderem vom US-amerikanischen Wirtschaftshistoriker Adam Tooze (1) verwendet, um die gegenwärtige Situation zu beschreiben, in der unterschiedliche Krisen zusammenfließen, so dass alles, was von ihnen hervorgebracht wird, zu einem schlimmeren Ergebnis führt als die Summe ihrer Teile. So sprechen wir von Demokratiekrise, ökologischer Krise, Krise des Kapitalismus…. Aber wenn wir in Betracht ziehen, dass es immer mehr unterschiedliche gesellschaftlicher Formen des Unbehagens gibt, die ihren Ausdruck in der Zunahme rechtsextremer Ideen finden sowie ein stetiges Anwachsen von Problemen in unseren westlichen Gesellschaften, die mit psychischer Gesundheit zusammenhängen, und beide Faktoren als Symptome ein und derselben Wirklichkeit sehen…. wäre es sinnvoll von einer weiteren Krise zu sprechen. Ganz konkret: Befindet sich das Subjekt in den westlichen Gesellschaften in einer Krise? Leben wir das Leben, das wir leben möchten? Geht es uns gut?
Die Frage, ob es möglich ist, uns wohl zu fühlen oder glücklich zu sein, ist eine komplexe Frage… sie ist weit entfernt von einer Grundsatzerklärung, eröffnet jedoch diverse grundlegende verfassungsrechtliche Texte unserer Staaten: in diesen galt das „gemeine Glück“ als Leitgedanke.
Kapital und Subjektivierung
Der Kapitalismus ist mehr als ein Wirtschaftssystem. Wir können ihn als „institutionalisierte gesellschaftliche Ordnung“ betrachten, die Phänomene wie Gesetz, Wissenschaft, Moral, Kunst und Kultur bedingt. Oder eine bestimmte Art der Subjektivierung, d.h. der Kapitalismus braucht einen bestimmten Prozess, durch den die Persönlichkeit aufgebaut wird, sodass eine bestimmte Sicht der Welt entsteht, bestimmte Affekte und Verhalten, die genau auf seine Bedürfnisse abgestimmt sind.
Wie Nancy Fraser darlegt (2) muss man den Kapitalismus als eine soziale Ordnung verstehen, die über die bloße Wirtschaftsform hinausgeht. Entlang der Geschichte war sie auf Mechanismen der Ausbeutung und Enteignung angewiesen, und zwar durch koloniale Territorien hindurch und gestützt auf einer rassistischen Vision der unterschiedlichen unterdrückten Völker, sowie auf einer bestimmten politischen Artikulierung, die sein Wachstum ermöglicht, auf die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Planeten sowie der unterschiedlichen Räume der sozialen Reproduktion, in denen die Kinder sozialisiert werden, Gemeinschaften entstehen, die auf bestimmten Werten und bestimmten affektiven Voraussetzungen aufbauen, sodass sich eine ganze Reihe unterschiedlicher reproduktiver Tätigkeiten in den Familien, den Nachbarschaften und den Schulen entwickelt ….
Diese reproduktive Tätigkeit ist absolut notwendig für die Erwerbsarbeit und für das allgemeine Funktionieren des Kapitals. Auf dieser Grundlage entwickelt sich das Geschlechter-Stereotyp, demgemäß produktive Arbeit mit dem Männlichen und reproduktive mit dem Weiblichen assoziiert wird.
Fraser argumentiert dann weiter, dass die kapitalistische Akkumulation in ihrem Innern unterschiedliche Krisenfronten beherbergt, da ihre Dynamik der grenzenlosen Akkumulation ihre eigenen Existenzbedingungen gefährdet.
So gefährdet das Kapital die Lebensbedingungen des Planeten, die Existenzbedingungen demokratischer Regime, sowie die soziokulturellen Prozesse, die notwendig sind, damit in Gemeinschaften Sinn entsteht sowie affektive Verfassungen und Beziehungen der Zusammenarbeit, die für den Bestand des Systems unerlässlich sind. So frisst sich das System selbst auf, wird zu einer autophagen (sich selbst auffressenden) Gesellschaft, wie es Anselm Juppé formuliert (3).
So wie die Erwärmung der Pole neue Möglichkeiten für den Verkehr, die Fischerei oder den Abbau von Mineralien in diesen Gewässern eröffnen, so wird das Auftauchen von unterschiedlichen Krisen durch das System als individuelle Probleme interpretiert, als da wären „psychische Krankheiten“ oder Bewusstseinsstörungen, die medizinisch behandelt werden können, sodass auf diese Weise die Gewinnmargen der pharmazeutischen Industrie erhöht werden. Wie auch in anderen Bereichen werden die Subjektivität und ihre Krisen vom extraktivistischen Kapitalismus ausgebeutet um ökonomische Profite zu generieren.
In diesem Sinn können wir von der Verletzlichkeit der kapitalistischen Subjektivität sprechen, weil sie auf den liberalen Prinzipien des Individualismus aufgebaut ist, der Meritokratie, des Wettbewerbs und des Konsums. Diese Prinzipien, die im Grunde als moralische Kriterien betrachtet werden können, wirken direkt auf die Art und Weise, wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren.
Wenn wir unsere Lebensgeschichte als einen Wettlauf um Leistung oder um den Konsum verschiedener Erfahrungen verstehen, die wir zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht erreichen, wäre es vernünftig zu denken, dass wir eher Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Angst oder Depression haben.
Nach dem Ausbruch der Pandemie und der Umsetzung globaler Maßnahmen zu ihrer Eindämmung ist es nicht erstaunlich, dass wir uns mit einer bedeutenden Zunahme von Problemen psychischer Gesundheit konfrontiert sahen, denn die sozialen Probleme haben ebenfalls zugenommen und die Risikofaktoren für ein gesundes und würdevolles Leben wuchsen ebenfalls immer mehr. Die gesellschaftlichen Determinanten der Gesundheit haben Schwarz auf Weiß angezeigt, was es für die Gesundheit und ganz besonders für die psychische Gesundheit bedeutet, in verarmten Nachbarschaften zu leben in Erwerbs-Prekarität, Erwerbslosigkeit, Wohnungslosigkeit, Armut sowie mit knapper und bedürfnisgebundener sozialer Absicherung, die stigmatisierend wirkt und die soziale Inklusion von Menschen erschwert.
Politische Maßnahmen der psychischen Gesundheit angesichts der Subjektivitätskrise
Seit einiger Zeit versuchen verschiedene europäische Instanzen einen Rahmen für das Verständnis der EU-Politik bezüglich psychischer Gesundheit einzurichten, und zwar im Hinblick auf Vollständigkeit, Multidisziplinarität, Aufmerksamkeit für gesellschaftliche Determinanten psychischer Gesundheit sowie für besonders verletzliche Gruppen.
Auf diese Weise passen diese Bemerkungen zu den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die in der letzten Dekade das Ziel einer Verbesserung der „globalen psychischen Gesundheit“ unter einer Reihe von Bedingungen befördert hat.
Auch wenn diese Institution häufig die Wichtigkeit der gesellschaftlichen Unterstützung sowie anderer nicht medizinischer Optionen benannt hat, hat ihr Engagement zur Verbreitung konventioneller biomedizinischer Gesundheitsversorgung beigetragen. Es wurden westliche Diagnosekonzepte, die Hervorhebung biologischer Ursachen psychiatrischer Erkrankungen und die regelmäßige Anwendung psychiatrischer Medikamente gefördert. Kritiker dieser Tendenz bezeichnen das als medizinische Kolonisierung.
Am 10. Juni 2021 hat die WHO ein 300 Seiten starkes Dokument veröffentlicht unter dem Titel: „Richtlinien für gemeindliche Dienste psychischer Gesundheit: Förderung von personenbezogenen, auf Rechte gründenden Ansätzen“
Die Richtlinien der WHO entstanden in einer Gruppe der UNO unter der Leitung von Michelle Funk, Leiterin der Einheit Politik, Recht und Menschenrechte der WHO-Abteilung für Psychische Gesundheit und Drogenmissbrauch. In besagtem Dokument wird ein Paradigmenwandel der Strategien globaler psychischer Gesundheitspflege angemahnt. Wir zitieren einige Gedanken des Artikels von Robert Withaker:
„Die kritischen gesellschaftlichen Determinanten, die auf die psychische Gesundheit der Menschen wirken, wie Gewalt, Diskriminierung, Armut, Ausschluss, Vereinsamung, Erwerbsunsicherheit oder Erwerbslosigkeit, Wohnungslosigkeit, Netzwerke der sozialen Absicherung und Gesundheitsversorgung, werden häufig übersehen oder aus den Konzepten und Praktiken der psychischen Gesundheit ausgeschlossen. Das führt zu einer Überdiagnostizierung des emotionalen Unbehagens der Menschen und zu einer exzessiven Abhängigkeit von Psychopharmaka zum Nachteil von psychosozialen Maßnahmen. Einem gut dokumentierten Phänomen, besonders in Ländern mit hohen Einkommen. Es schafft auch eine Situation, in der die psychische Gesundheit einer Person hauptsächlich innerhalb der Gesundheitssysteme angegangen wird, ohne dass es eine hinreichende Schnittstelle gibt mit notwendigen gesellschaftlichen Instanzen und Infrastrukturen, um die vorher benannten Determinanten anzugehen.
So beschneidet sich diese Ansatzform in ihrer Möglichkeit, die Person in ihrem gesamten Lebenskontext und ihrer Lebenserfahrung in Betracht zu ziehen. Darüber hinaus führen die in der allgemeinen Bevölkerung, unter den verantwortlichen Politikern und anderen Personen vorherrschenden stigmatisierenden Einstellungen und Ansichten in Bezug auf Menschen mit psychosozialen Behinderungen und psychischen Erkrankungen – z.B. dass sie Gefahr laufen, sich selbst oder andere zu verletzen oder dass sie medizinische Behandlung brauchen, um sich zu schützen – ebenfalls zu einer übertriebenen Betonung der biomedizinischen Behandlung und zu einer allgemeinen Zwangspraxis wie die Hospitalisierung, die Zwangsbehandlung oder die Vereinzelung und Einsperrung“.
Das Dokument der WHO sagt, dass die Länder einen auf Menschenrechte gründenden Ansatz als Richtlinie annehmen müssen, die auf die Wiederherstellung der Gesundheit gründenden zentralen Konzepte annehmen und Dienste aufbauen müssen, die den Menschen, die mit Problemen mit ihrer psychischen Gesundheit kämpfen, und ihrer Umgebung psychosoziale Unterstützung anbieten.
Indem es die Gesellschaften antreibt, Gesundheitsdienste anzubieten, die frei sind von Zwang, sowie Gesetze anzunehmen und Politiken, die Zwangsmaßnahmen verbieten, unterstützt dieses Dokument der WHO einen vollkommenen Paradigmenwechsel in Bezug auf die psychischen Gesundheitsdienste weltweit.
„Gesundung“ neu konzipieren.
Das biomedizinische Modell der psychischen Gesundheit ist ein Modell, das auf dem Konzept der „psychischen Krankheit“ gründet, weshalb die Idee von Gesundung verbunden ist mit einer Reduzierung der Symptome. Das Individuum gesundet von einer Krankheit, und man geht davon aus, dass die Psychopharmaka eine notwendige und unvermeidliche Behandlung für den Prozess der Gesundung der Personen darstellen.
Besagtes Dokument argumentiert, dass das Gesundheitspersonal einen anderen Ansatz der Gesundung annehmen muss, der daraus erwächst, dass sie den Menschen und ihren gelebten Erfahrungen zuhören, indem sie die Subjektivität der Person, mit der sie arbeiten, aus der Nähe verstehen, indem sie einen „auf Genesung gründenden Ansatz“ anwenden.
Der Genesungssansatz hängt nicht nur von den psychischen Gesundheitsdiensten ab. Es ist grundlegend, die familiären, gemeindlichen und sozialen Kontexte, in denen die Personen leben, mit in Betracht zu ziehen.
Andererseits übersteigt die Notwendigkeit der Gesundung die Gesundheitsdienste und führt dazu, dass die Koordinierung und die Zusammenarbeit mit anderen Diensten (Sozialarbeit, Gemeindebehörden, Justizvollzugsanstalten, Bildungseinrichtungen, dritter Sektor der Sozialarbeit…) notwendig wird.
Denn man darf das Konzept der psychischen Gesundheit nicht nur in die Medizin einsperren, vielmehr müssen die politischen Maßnahmen in eine bereichsübergreifende Perspektive eingebettet werden, da sie diverse politische und soziale Räume betreffen. Wie James Davies (2022) erinnert: „In wichtigen Bereichen des psychosanitären Panoramas haben viele Menschen und Organisationen begonnen, sich spontan zu verbinden, um Widerstand gegen Jahrzehnte neoliberaler Unterwerfung zu leisten, indem sie weniger Medikalisierung und Entpolitisierung fordern, während sie gleichzeitig Alternativen praktizieren, die sich mehr auf die Traumata zentrieren, auf die Pflege der Beziehungen und das gemeinschaftliche Leben, die menschlicher, psychosozialer, und nicht biomedizinisch sind“ (4).
In diesem Sinn zeigen uns die mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) oder die mit der Vier-Tage-Arbeitswoche verbundenen Vorschläge einen interessanten Weg auf, der über die rein wohlfahrtstaatlichen Lösungen hinausführt.
Wir sind immer mehr, die davon überzeugt sind, dass ein BGE Teil der grundlegenden Menschenrechte werde sollte. In den letzten Jahren sind unterschiedliche Schreiben und Erklärungen zur Einführung des BGEs erschienen.
Selbst ein Leitartikel des British Medical Journal von 2016 war diesbezüglich klar, nach der Analyse der positiven Ergebnisse vieler BGE-Pilotprojekte in Bezug auf psychische Gesundheit und Süchte: „Die Angehörigen der Gesundheitsberufe sollten aktiv werden. Es gibt Hinweise darauf, dass ein universelles Grundeinkommen dazu beitragen könnte, die geistige und körperliche Gesundheit der Beziehenden zu verbessern”.
Im Manifest der Psychiatrie-Erfahrenen/psychiatrisierten Personen für ein Universelles Grundeinkommen wird gesagt, dass „ein Universelles Grundeinkommen letztendlich eine Maßnahme wäre, um Prozesse der Heilung und Ermächtigung in unserem Kollektiv zu befördern. Zunächst einmal, weil es über die Tatsache hinaus, dass es Minimalbedingungen für ein nachhaltiges Leben garantieren würde, ein autonomes Leben unabhängig von der Familie oder von Institutionen befördern würde. Gegenwärtig verdammen die materiellen Unmöglichkeiten zur Abhängigkeit, was ein Hindernis darstellt für Autonomie, Selbstbestimmung, persönliches Wachsen und die Ausübung einer aktiven Bürgerschaft. Ohne die notwendigen materiellen Ressourcen für das Abdecken von Grundbedürfnissen bleiben wir in paternalistischen Abhängigkeitsbeziehungen stecken.
Zweitens weil eine bedingungslose Zuteilung bei vielen Personen das Wagnis, wieder eine Erwerbsarbeit aufzunehmen, befördern würde, ohne Ängste, die Sozialleistung zu verlieren, die wir erhalten und die unsere Existenz sichert. – Eine Situation, die heute perverse Effekte verursacht, da sie ein Hindernis ist für die Eingliederung in die Erwerbsarbeit und für die Gesundung.“
Auf jeden Fall impliziert das Sprechen von Wiederherstellung das Konzept der „Heilung“ oder der „Normalität“ der Personen zu transzendieren, um dazu überzugehen, die psychische Gesundheit in Bezug darauf zu denken, wie die eigene Identität wiedergefunden wird, die eigene Würde und die Suche nach dem Sinn des eigenen Lebens, auf der Suche nach einem guten Leben, das es lohnt gelebt zu werden.
(1) Adam Tooze, Chartbook #130 Defining polycrisis – from crisis pictures to the crisis matrix. (substack.com)
(2) Fraser N. Capitalismo Canibal. Siglo XXI. 2023. (auf Deutsch: Der Allesfresser, wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Suhrkamp, 2023.)
(3) Juppé A. La sociedad autófaga. Pepitas de Calabaza. 2019.
(4) Davies, J. Sedados. Capitán Swing, 2022.
Quelle: https://www.elsaltodiario.com/analisis/una-recuperacion-dignidad-del-bienestar-salud-mental
Zu den Autoren:
Sergi Raventós
Doktor der Soziologie und Sozialarbeiter. Er arbeitet seit über 25 Jahren in einer Stiftung für psychische Gesundheit in Barcelona . Er ist Mitglied in Vorstand von Red Renta Básica (Spanisches Netzwerk Grundeinkommen)
Iñaqui García Maza
Psychologe und Psychotherapeut, Koordinator von Erain S.Coop (eine Kooperative für psychische Gesundheit) und Vorsitzender des Vereins für Gestalttherapie im Baskenland
Übersetzung: Elfriede Harth, 27.03.2025