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Geständnisse eines (früher) wahren Gläubigen von „Poverty Targeting“

Dr. Stephen Kidd

(Poverty Targeting bedeutet, dass Transferleistungen nur gezielt an „die Armen“ oder „die Ärmsten“ ausgereicht werden, d.Übers.)

Ich habe ein Geständnis abzulegen: Ich pflegte ein wahrer Gläubiger von Poverty Targeting zu sein. Ich weiß, es ist schockierend das zu hören und schwierig für mich einzugestehen, aber wir alle kommen irgendwann vor der Wahrheitskommission zu stehen und müssen unsere Sünden gestehen.

Etwas Gutes jedoch resultiert aus meiner Begeisterung für Poverty Targeting, ich kann verstehen warum andere wahre Gläubige ihre Ergebenheit aufrechterhalten. Um also nicht zu hart zu mir selbst – und anderen auf demselben sinkenden Schiff – zu sein, lasst uns zugeben, dass die Ideologie des Poverty Targeting hoch verführerisch ist und man leicht ihrem sirenenartigen Charme zum Opfer fallen kann. Wie auch immer, lasst mich meine persönliche Geschichte erzählen.

2004 begann ich zu Sozialer Sicherung zu arbeiten, als ich Teamleiter des „Die Ärmsten Erreichen“-Teams des Ministeriums für internationale Zusammenarbeit (DFID) wurde (ich weiß, es ist ein bescheuerter Name, aber das war die Wahl des Ministers/der Ministerin und später schafften wir es seinen Namen in Soziale Sicherheit-Team zu ändern). Ich bekam die Aufgabe ein Strategiepapier für DFID zu schreiben, welches irgendwie schon etwas spät dran war. Das führte dazu, dass ich mich in die verfügbare Literatur über Soziale Sicherung versenkte – so weit wie möglich – um Befunde zu finden, die ich in das Papier aufnehmen konnte.

Unglücklicherweise schien nahezu alle Literatur, die 2004 verfügbar war, über Armenfürsorge zu handeln und von Befürwortern von Poverty Targeting geschrieben zu sein. Im Ergebnis unterzog ich mich selbst einer Gehirnwäsche dahingehend, dass ich am Ende selbst glaubte, dass Poverty Targeting Sinn ergibt. Ich habe die Vorstellung von „begrenzten Budgets“, welche weithin von wahren Gläubigen befördert wurde, nicht hinterfragt, sondern akzeptierte allzu einfach das Argument, dass Länder daher die ärmsten und verwundbarsten Mitglieder der Gesellschaft priorisieren sollten. Die Idee einer festen und identifizierbaren Gruppe „der Armen” erschien logisch. Außerdem war wenig oder keine Evidenz verfügbar über die wirkliche Zielungenauigkeit der Armenfürsorge-Programme: Das Buch von Coady, Grosh und Hoddinott (2004) über gezielte Armenfürsorge war gerade herausgekommen und obwohl darin von Zielungenauigkeit die Rede war, wurde sie in einer vernebelnden Art und Weise dargestellt, die die Leser*innen dazu verleitete, dass gezielte Armenfürsorge wirksamer darin wären die ärmsten Mitglieder der Gesellschaft zu erreichen als universelle Programme (siehe Seite 14 dieses Papers als Erklärung). Sie haben definitiv mich getäuscht als ich mich beeilte das Strategiepapier zu schreiben. In der Tat schrieb ich sogar, dass Mexikos heute nicht mehr bestehendes Progresa– (später Oportunidades-)Programm eine hohe Zielgenauigkeit hatte – heute wissen wir, dass es 54% der Zielgruppe nicht erreichte.

Als wahrer Gläubiger in einer einflussreichen Position im DFID bewarb ich aktiv die Vorteile von Poverty Targeting. Wir entdeckten ein kleines Geldtransferprogramm in Kalomo in Sambia, welches auf die ärmsten 10% der Bevölkerung ohne Arbeitsfähigkeit abzielte – zu der Zeit nannte der Designer des Programms die „nicht-lebensfähige“ Bevölkerung – und gaben ihm weltweite Sichtbarkeit, indem wir darüber in dem DFID-Strategiepapier schrieben, den Programm-Designer einluden im DFID-Hauptquartier in London zu sprechen und sogar die afrikaweite Livingstone-Konferenz in der Nähe von Kalomo organisierten, so dass die Teilnehmer*innen das Programm besuchen konnten. Ich sprach über Kalomo in Workshops und Konferenzen. Einige Jahre später fand ich heraus, dass ein Vortrag, den ich bei UNICEF in New York gehalten hatte, der Auslöser für die Schaffung des Sozial Cash Transfer-Programms in Malawi war, welches demselben 10%-Modell folgte und später von einer Reihe anderer afrikanischer Länder kopiert wurde. Ich warb für Brasiliens Bolsa Familia-Programm bei afrikanischen Regierungen und nahm etwa 25 Leute aus fünf Ländern in Afrika auf die vermutlich erste Studienreise nach Brasilien mit, um das Programm kennenzulernen (was direkt zu dem extrem auf Armut abzielenden LEAP-Programm in Ghana führte mit einer Ausschluss-Fehlerquote von 95% [d.h. es erreicht nur 5% seiner Zielgruppe, d.Übers.]).

Natürlich bereue ich den Schaden jetzt zutiefst, den ich verursachte indem ich Menschen davon überzeugte, dass bedürftigkeitsgeprüfte Sozialtransfers der richtige Weg wären.

 Wie also änderten sich die Dinge? Entscheidend in meinem Aussteigerprogramm war die Veröffentlichung eines Artikels des großen malawischen Akademiker Thandika Mkandawire von 2005 mit dem Titel „Targeting and Universalismus in der Armutsbekämpfung“. Unter anderem lehrte er mich, dass die Vorstellung von festen oder begrenzten Budgets ein fiktionales Konstrukt ist und Regierungen immer eine Finanzierung für populäre universelle Programme finden, an die sie glauben (daher die 88 universellen Programm in Niedrig- und Mitteleinkommensländern, die in diesem Paper zusammengestellt sind). Ein anderer Schlüsselmoment in meinem Aussteigerprogramm war ein Besuch eines Dorfes in Kalomo, wo ich eine alte Frau über einen Platz rennen sah, gebückt und nervös von einer Seite zur anderen schauend. Unser Führer erzählte uns, dass sie gerade vom Social Cash Transfer-Programm bezahlt worden war und schlug vor, dass wir ihr nach Hause folgen sollten, um sie über ihre Erfahrungen zu befragen. Sie erzählte uns wie das Geld, das sie erhielt, einen großen positiven Unterschied in ihrem Leben bewirkt hatte: Sie konnte jetzt essen, hatte bessere Kleidung, konnte sich mit Seife waschen und hatte einige Hühner zur Zucht gekauft. Aber, und das ist es was mich betroffen machte, sie sagte auch, dass sie alle ihre Freund*innen verloren hatte, da alle auf sie neidisch waren. Ich begann plötzlich den Schaden zu begreifen, den Poverty Targeting verursachen kann, indem es Beziehungen zerstört und sozialen Zusammenhalt untergräbt.

Seitdem habe ich natürlich viel mehr gelernt über das Pro und Kontra von Bedürftigkeitsprüfungen und Universalität. Ich weiß jetzt, dass Universalität der einzige Weg ist, um die ärmsten Mitglieder der Gesellschaft zu erreichen und niemanden zurückzulassen, während Bedürftigkeitsprüfungen immer hohe Ausschlussfehler zur Folge haben. Ich habe gelernt, dass Universalität Würde und individuelle Rechte befördert, während Poverty Targeting sie untergraben kann. Ich habe realisiert, dass der Haupttreiber von Poverty Targeting der Wunsch danach ist, die Kosten niedrig zu halten und damit Steuern zu senken, insbesondere für die Reichen. In der Tat entsprang der Antrieb, Armenfürsorge-Programme in Niedrig- und Mitteleinkommensländern einzuführen einer neoliberalen Ideologie, welche die Reichen über die Armen sowie ein kurzsichtiges Streben nach unmittelbarer ökonomischer Effizienz über Gewinne auf lange Sicht privilegiert. Ich bin also jetzt überzeugt, dass es für Länder, die wirksam Armut reduzieren, in ihre Kinder investieren, allen Würde bieten, zusammenhaltende Gesellschaften und starke Gesellschaftsverträge aufbauen, Staatseinnahmen steigern und nachhaltiges Wirtschaftswachstum erzeugen wollen, essenziell ist, universelle, lebenslange soziale Sicherungssysteme einzuführen, die jede und jeden von der Wiege bis zur Bahre schützen (in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte).

Was war mit mir passiert? Faktisch erfuhr ich einen Paradigmenwechsel in meinem Denken. Neue Befunde wurden mir zugänglich und als Ergebnis änderte ich meine Meinung. Vorbei sind die Tage, da ich schädliche Armenfürsorge-Programme propagierte, die Menschen in der Armut gefangen halten und das Vertrauen in den Staat untergraben. Und die gute Neuigkeit ist, dass ich in der Folge eine Rolle in einer Bewegung spielte, die gezeigt hat, dass universelle soziale Sicherheit sowohl bezahlbar als auch in allen Ländern praktikabel ist, wenn es den politischen Willen dazu gibt.

Mein Aufruf an alle wahren Gläubigen ist also: Bitte schaut Euch die Belege an. Bedenkt den Schaden, den Eure Politik für Individuen, Familien und Nationen verursacht. Bekämpft den Mythos, dass universelle soziale Sicherheit unerschwinglich ist, und helft transformative Veränderung in Eure Länder zu bringen. Glaubt mir, wenn der Schleier einmal gelüftet ist und Ihr zum neuen Paradigma gewechselt habt, sieht die Welt sehr anders aus und alles wird möglich. Ich weiß, dass ein Paradigmenwechsel eine Herausforderung ist für jene, die in Institutionen arbeiten mit mächtigen internen Anreizen, sich für Armenfürsorge und Sozialregister stark zu machen, aber ich plädiere dafür, sich auf die Fakten zu konzentrieren und sie nicht zu verzerren (und ihre Institution von innen zu hinterfragen).

Ich habe die Veränderung geschafft, Ihr könnt es auch!


Dr. Stephen Kidd ein bedeutender Spezialist für Soziale Sicherheit bei Development Pathways und hat in mehr als 40 Ländern in Asien, dem Pazifikraum, Afrika, Lateinamerika und dem Mittleren Osten gearbeitet. Er war zuvor Politik-Direktor bei HelpAge International, leitete das Team für Soziale Sicherheit beim britischen Ministerium für Entwicklung und war Dozent für Sozialanthropologie an der Universität von Edinburgh. Er hat umfassende Erfahrung bezüglich vieler Aspekte von Sozialer Sicherheit, hat erfolgreich die politische Entwicklung nationaler sozialer Sicherheit in verschiedenen Ländern unterstützt und Forschung über eine breite Palette von Themen der Sozialen Sicherheit durchgeführt.

Übersetzung: 28.2.25 EM

Quelle: Confessions of a [former] true believer in poverty targeting

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