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Wie einfach es wäre, die Wahrheit über den deutschen Arbeitsmarkt zu schreiben

Wie einfach es wäre, die Wahrheit über den deutschen Arbeitsmarkt zu schreiben

Christian J. Meier

„Postfaktisch“, das Wort des Jahres 2016. Keine schlechte Wahl. Manipulation, Desinformation und Verschwörungstheorien sind zwar wahrlich nichts Neues in der Menschheitsgeschichte. Aber heute gibt einem die schiere Masse davon das Gefühl, der Boden der Tatsachen werde einem unter den Füßen weggezogen.

Schwer zu sagen, wer es ehrlich meint und wer nur sein Süppchen kochen will.
Ist die Welt wirklich so beschissen, wie es die Angstmacher, von Donald Trump bis Frauke Petry, behaupten?

Oder, anders herum: Ist wirklich alles so gut, wie Mutti Merkel meint? Geht es Deutschland gut?
Oder ist das nur Wohlfühl-PR, die die Missstände überdecken soll, um keine politische Debatte führen zu müssen?

ber ich höre schon den Einwand. Moooment: Was für Missstände? Deutschland geht es doch wirklich gut! Wer das bezweifelt ist nichts weiter als ein notorischer Miesmacher. Typisch deutsch, diese Jammerei!
Jeden Monatsende verbreiten doch die Medien die frohe Botschaft auf allen Kanälen übers Land: Rekordbeschäftigung, so viele sozialversicherungspflichtige Jobs wie nie. So wenig Arbeitslose wie seit 25 Jahren nicht mehr. Vollbeschäftigung, wir kommen!

Deutschland, der kranke Mann Europas: Geschichte. Journalisten schreiben Sätze wie: „In kaum einem anderen Land dieser Welt geht es der Bevölkerung im Durchschnitt so gut wie hierzulande.“

Yeah, think positive!

Nun habe ich viel Verständnis dafür, dass Journalisten nicht viel Zeit haben, einem Thema recherchemäßig auf den Grund zu gehen (ich bin ja selbst einer).

Aber manchmal ist das Faktische vom Postfaktischen nur einen Mausklick entfernt.
Ich habe den Test gemacht.

Wie schwer wäre es, anstatt die PR einer Bundesbehörde (der Bundesagentur für Arbeit) kritiklos weiterzuleiten, mehr Wahrheit über den deutschen Arbeitsmarkt zu schreiben?

Ich will jetzt gar nicht vom Billiglohnsektor sprechen, von Menschen, die zwar arbeiten, aber davon nicht leben können, von Leiharbeit und wie all diese neoliberalen Wundermittel gegen die Arbeitslosigkeit heißen.
Sondern einfach davon, dass man als Journalist dieses manipulative Konstrukt namens „Arbeitslosenzahl“ mit Leichtigkeit entlarven könnte.

Ich versetze mich also in die Lage eines, sagen wir, Sportjournalisten, der kurzfristig für einen erkrankten Kollegen aus der Politik einspringen muss. Es ist der Tag, an dem die Bundesagentur der Arbeit die Arbeitslosenzahlen für das Jahr 2016 publiziert, der 3. Januar also. Ich soll was drüber schreiben. Hab zwar keine Ahnung von Arbeitsmarktpolitik und nur zwei Stunden Zeit, aber gut.

ch gehe auf die Website der Bundesagentur für Arbeit. Ah, hier ist ja schon ein Link „Arbeitslosenzahlen im Jahr 2016“.

Ah ja: 2.691.000 Arbeitslose. Das sind 104.000 weniger als im Vorjahr. Super, Deutschland geht es gut!
Ich will schon in die Tasten hauen. Da springt mir folgendes ins Auge: „Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung“.

Holla, „Unterbeschäftigte“ gibt es schon viel mehr: 3.581.000 Personen. Und diese Zahl hat zum Vorjahr nur um 50.000 abgenommen. Der stärkere Rückgang der „Arbeitslosigkeit“, klärt mich die Seite auf, verdankt sich „arbeitsmarktpolitischer Instrumente“. Das ist also das deutsche Jobwunder? Konstrukte wie „Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung“? Politiker, die Arbeitslose von einer Statistik-Schublade in die andere umschichten?

Jetzt will ich es etwas genauer wissen. Was sind überhaupt Unterbeschäftigte? Einen Klick weiter finde ich die Antwort:

Hier lerne ich, dass „Arbeitslosenzahl“ im Beamtendeutsch was ganz anderes meint als ich dachte. Nein, es ist nicht die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland. Es ist die Zahl derer, die arbeitslos im „Sinne des Sozialgesetzbuches“ sind. Diese Arbeitslosen sind lediglich „im engeren Sinn“ arbeitslos. Leute in „Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik“ zum Beispiel, zählen gar nicht mit. Oder Arbeitslose, die „kurzfristig erkrankt“. Man spannt also sogar die Grippesaison ein, um die Arbeitslosenzahl zu verkleinern.

Tja, jetzt könnte ich schreiben, was die anderen schreiben, „Arbeitslosenzahl auf neuem Tiefststand“, oder so. Aber etwas kitzelt in meinem Hinterkopf. An der Stelle, wo mal der journalistische Berufsethos saß. Ist wohl noch nicht ganz ausgetrocknet. Ich soll doch als Journalist die Realität beschreiben, erinnere ich mich. Das ist mein Job.

Also gut: „Arbeitslosenzahl sinkt 2016 nur leicht auf 3,581 Millionen“, schreibe ich.
Was der Chefredakteur wohl dazu sagen wird?

Die Pointe der Geschichte kommt noch: Die Bundesagentur für Arbeit schreibt selbst, dass die Zahl der „Unterbeschäftigten“ ein realistischeres Bild vom deutschen Arbeitsmarkt gibt: Diese Zahl gebe ein „möglichst umfassendes Bild vom Defizit an regulärer Beschäftigung“.

Das für mich schockierende Fazit: Mit einer „Recherche“ von zwei Klicks ließe sich aus der bloßen Verlautbarung einer manipulativen Zahl eine Story konstruieren, die die Wirklichkeit realistischer beschreibt.

Warum passiert das nicht, oder jedenfalls kaum?

Wir bräuchten Medien, die wenigstens versuchen, die Arbeitsmarktsituation in Deutschland realistisch darzustellen. Was wir nicht brauchen ist eine Jubelpresse. Nur durch Kritik verbessern sich die Dinge.

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