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Arbeitsbegriff beim ZDF – zweite Programmbeschwerde

Am 1. Mai 2024 hat das ZDF eine Sendung mit dem Titel “Am Puls mit Sarah Tacke – Arbeitslos – kein Bock oder keine Chance?” ausgestrahlt und in der Mediathek veröffentlicht. Unser Mitglied Eric hat daraufhin heute, am 4.6.24 eine förmliche Beschwerde beim ZDF eingereicht, die wir unten dokumentieren. Wer sich ebenfalls beschweren möchte, kann das hier tun.

Am 17.3. hatte Eric bereits eine andere Sendung wegen ähnlicher Verzerrung der Wirklichkeit beanstandet, siehe dazu hier.

[Update vom 11.9.24: Weitere Informationen zum Gang der Beschwerde einschließlich Reaktion des ZDF-Intendanten Dr. Norbert Himmler finden sich hier]

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich habe gerade Ihre Sendung vom 1.5.24 „Am Puls mit Sarah Tacke – Arbeitslos – kein Bock oder keine Chance?“ angeschaut.
Für meine Begriffe werden Sie mit dieser Sendung Ihrem Auftrag nicht gerecht. Sie verwenden den Begriff „Arbeit“ bzw. „arbeiten“ durchweg nur in Bezug auf Erwerbsarbeit. Jedoch werden in Deutschland mehr Arbeitsstunden unbezahlt geleistet als bezahlt und diese Arbeit trägt wesentlich zur Wohlfahrt bei. Gerade die unbezahlte Haus- und Sorgearbeit ist überhaupt die Grundlage dafür, dass Menschen erwerbstätig sein können, aber auch gesellschaftliches und politisches Engagement sind absolut notwendig für den Zusammenhalt und das Fortbestehen der Demokratie.
Auf der anderen Seite ist nicht jede Erwerbsarbeit sinnvoll oder trägt zum Gemeinwohl bei, es gibt sogar Erwerbsarbeit, die Menschen oder/und den natürlichen Lebensgrundlagen, auf die wir angewiesen sind, massiv schaden, z.B. Arbeit in der Tabakindustrie oder in den Fossilen Energien. Der Ökonom Günther Moewes schätzt den Anteil der unnötigen oder zerstörerischen Erwerbsarbeit auf 40-60% (siehe hier).

Im Folgenden belege ich meine Aussage an einzelnen Stellen Ihres Filmes:

Bei Minute 1:05 fragen Sie: „Wer sind unsere Arbeitslosen und warum arbeiten sie nicht?“
Richtig müsste die Frage lauten: „Wer sind unsere Erwerbslosen und warum machen sie keine Erwerbsarbeit?“ Oder vielleicht: „Was machen unsere Erwerbslosen (und warum)?“

Bei 6:08 berichten Sie über einen Erwerbslosen, der Laptops repariert und an Bedürftige verschenkt. Also arbeitet er offenkundig – und zwar zum Nutzen seiner Mitmenschen. Dennoch heißt es dann: Seine Frau sei EBENFALLS arbeitslos. Wir erfahren nicht, was sie mit ihrer Zeit macht, vielleicht repariert auch sie Dinge, um sie zu verschenken (was übrigens aus ökologischer und sozialer Sicht sehr sinnvoll ist).

Bei 9:55 heißt es „die sitzen nur auf der Couch“. Das ist die Ansicht einer „fleißigen Arbeiterin“, wahrscheinlich trifft es aber auf die wenigsten Menschen zu. Wer keine Erwerbsarbeit macht, sitzt deshalb nicht unbedingt den ganzen Tag auf der Couch. Es wäre hier Ihre Aufgabe gewesen, herauszufinden, was Menschen tun, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen und warum sie es machen oder nicht machen.

Bei 11:40 heißt es (Reinigungsunternehmer Thomas Conrady): „dass die Menschen nicht motiviert sind zu arbeiten“ – auch hier setzen Sie wahrheitswidrig wieder arbeiten und erwerbsarbeiten gleich.
Dieser Unternehmer vergleicht danach Menschen, die nicht erwerbsarbeiten wollen, mit faulen Äpfeln in einer Kiste, die andere Menschen (Äpfel in der Kiste) anstecken. Das Bild ist ganz nah an dem Konzept des „Volksschädlings“, der aus der Kiste entfernt werden muss, um die anderen Menschen nicht zu infizieren oder zu schädigen.
Dass Sie solchen Sprüchen Raum geben, ohne sie zumindest einzuordnen, ist in meinen Augen nah am Tatbestand der Volksverhetzung. Die Nazis haben genau mit diesem Menschen- und Gesellschaftsbild die sogenannten „Asozialen“ aus dem „gesunden Volkskörper“ (Apfelkiste) entfernt und in Konzentrationslager gesperrt. Sie werden hier Ihrem Bildungsauftrag in keinster Weise gerecht, sondern betreiben eine gefährliche gesellschaftliche Spaltung auf niederstem Niveau.
Die AfD und andere Verfassungsfeinde werden es Ihnen danken.

13:55 „könnten theoretisch arbeiten gehen, tun es aber nicht“ – wiederum wissen wir nicht, was diese Menschen tun oder arbeiten.

18:10 „Experten in Sachen Arbeitslosigkeit: die Jobcenter“
Die Zuschreibung an die Jobcenter, sie wären die Experten in Sachen Erwerbslosigkeit, ist doch recht gewagt. Die Betroffenen und auch die Vielzahl von unabhängigen Beratungsstellen wären wohl eher die richtige Adresse, wenn Sie solch eine Expertise suchen.
Auch die Bezeichnung „Kunden“ für Transferleistungsbeziehende müsste kommentiert werden. Denn das Verhältnis von Leistungsbeziehern zu Jobcentermitarbeitern ist nun keineswegs vergleichbar mit dem von „Kunden“ zu irgendeinem Unternehmen („der Kunde ist König“), es ist absolut asymmetrisch und geprägt von einseitiger Abhängigkeit. Die Rede von den „Kunden“ der Jobcenter erinnert an das „Minstry of Truth“ in George Orwells 1984. Auch hier versäumen Sie es, dieses Neusprech entsprechend einzuordnen.

32:50 Ehrenamt beim DRK (…sitzt nur auf der Couch?)

35:20 „für alle Frauen bleibt Kinderbetreuung die Hürde um in Arbeit zu kommen“ – als ob die Betreuung der eigenen Kinder keine Arbeit wäre…?

Bei 39:40 bringen Sie eine Statistik, die so nicht stimmt, da Sie wieder erwerbsarbeiten und „arbeiten“ gleichsetzen.

40:50 „was hindert (sie) zu arbeiten?“ – ja, sie fühlen sich verpflichtet, sich um von ihnen abhängige Menschen zu kümmern. Und das soll keine Arbeit sein?

42:00 „Hat sie erstmal ihre Kinder großgezogen. Jetzt möchte sie endlich arbeiten.“
Der britische Ökonom Prof. Guy Standing sagt: „Was mir für lange Zeit Kopfzerbrechen bereitete, ist, dass jedes Zeitalter durch die Geschichte hindurch seine eigene Dummheit bezüglich dessen hatte, was Arbeit ist und was keine Arbeit ist. Und das 20. Jahrhundert ist in meinen Augen das dümmste von allen. Denn es war das einzige Jahrhundert, wo Erwerbsarbeit, die du für einen Boss getan hast, als die einzige Form von Arbeit angesehen wurde, auf die es ankommt. Wenn du Erwerbsarbeit tatest, bekamst Du Ansprüche, Rechte. Die Statistiken messen Erwerbsarbeit, aber nicht Arbeit. Und eine sehr einfache Weise das Problem zu veranschaulichen ist folgende: Angenommen Du stellst eine Haushälterin ein, so würde das Nationaleinkommen steigen, die Beschäftigung steigen, das Wirtschaftswachstum steigen und die Arbeitslosenquote sinken. Würdest du sie heiraten und sie würde weiterhin genau dieselbe Arbeit tun, würde das Nationaleinkommen sinken, die Beschäftigung sinken und das Wirtschaftswachstum sinken und die Arbeitslosenquote steigen. Also, du kannst nicht dümmer oder sexistischer werden als das.“ (siehe seinen Vortrag von 2015 in Kopenhagen, Minuten 3:30-5:00]

Mit freundlichen Grüßen
Eric Manneschmidt
Frankfurt, 4.6.24

Nachricht vom ZDF am 5.6. (Auszug):

“Sie haben in Ihrer Eingabe keine konkrete Programmrichtlinie genannt, gegen die verstoßen worden sein soll. Der Hinweis, dass die Sendung ihrem Auftrag nicht gerecht werde, reicht dafür nicht aus. Die Qualitäts- und Programmrichtlinien finden Sie hier.

 

Wir haben die Eingabe daher zur Beantwortung an die zuständige Chefredaktion weitergeleitet. Diese kann zu Ihren Punkten Stellung nehmen. Falls Ihnen das nicht ausreicht, können Sie im Nachgang mit entsprechender Darlegung eines konkreten Verstoßes gegen die Qualitäts- und Programmrichtlinien ein förmliches Beschwerdeverfahren beantragen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

vielen Dank für Ihre Rückmeldung.

Meines Erachtens wurde in der von mir beanstandeten Sendung gegen folgende Programmrichtlinien verstoßen:

Abschnitt I Grundwerte und journalistisch-redaktionelle Grundprinzipien
I (3) Die Angebote erleichtern dem Einzelnen die eigene Urteilsbildung und Werteorientierung. Sie fördern eine freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung, erhellen Hintergründe sowie Zusammenhänge und unterstützen die Einordnung und Gewichtung der Informationen. Sie tragen dazu bei, Falschnachrichten aufzudecken und einzuordnen.

In der Sendung wurde, wie bereits dargelegt, systematisch „Arbeit“ verkürzt auf „Erwerbsarbeit“. Das entspricht nicht der Realität (Zeitverwendungserhebung des Statistischen Bundesamtes 2022). Damit wird die eigene Urteilsbildung der Zuschauenden be- oder verhindert, Hintergründe und Zusammenhänge werden gerade nicht erhellt. Faktisch werden Falschnachrichten verbreitet, die richtigzustellen Ihre Aufgabe wäre.

I (4) Jede Berichterstattung orientiert sich konsequent am Ziel der Sachlichkeit und Wahrheit. Sollten trotz Überprüfung Zweifel an der Zuverlässigkeit einer Quelle bleiben, werden diese zum Ausdruck gebracht.

Wie bereits umfassend dargelegt, orientierte sich die beanstandete Sendung keineswegs an der Sachlichkeit und Wahrheit.

Abschnitt II Gesellschaftliche Vielfalt
II (2) Die Angebote fördern das wechselseitige Verständnis für unterschiedliche Lebenssituationen in der Gesellschaft sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das gilt insbesondere bei der programmlichen Darstellung von Ehe, Familie und weiteren Formen des Zusammenlebens von Menschen.

In der besagten Sendung wurde keinerlei Verständnis gefördert für Menschen, die sich der notwendigen unbezahlten Arbeit widmen oder/und keiner Erwerbsarbeit nachgehen (wollen). Im Gegenteil wurde die verhetzende Aussage eines Unternehmers ohne Kommentar und historische Einordnung dargestellt, der nicht erwerbstätige Menschen ernsthaft mit „faulen Äpfeln“ verglich, die angeblich in einer Kiste mit anderen Äpfeln diese anzustecken drohen. Es blieb an der Stelle den Zuschauenden überlassen, die Schlussfolgerung zu ziehen, was man mit dem faulen Obst machen muss: Man muss es aus der Kiste entfernen und entsorgen.
Ein zutiefst menschenverachtender Vergleich.

II (6) Die Angebote informieren umfassend, beraten, unterhalten und tragen zu Bildung und Kultur bei. Sie ermutigen zu kritischem Denken, regen zum Dialog und Respekt vor anderen Meinungen an.

In dem Programm wurde keineswegs zu kritische Denken ermutigt, sondern Klischees über (Erwerbs-)Arbeit und Erwerbslosigkeit bzw. Erwerbslose  wurden verbreitet und verstärkt.

Abschnitt III Demokratie und Kultur
III (2) In den Angeboten kommen unterschiedliche Meinungen zum Ausdruck. Die Angebote zielen darauf ab, das Verständnis zwischen den verschiedenen politischen, sozialen und gesellschaftlichen Gruppen zu unterstützen. Das ZDF stärkt durch sachgemäße Information die politische Urteilsfähigkeit. Es stellt Aufgaben und Entscheidungsmöglichkeiten dar, um die Übernahme von Verantwortung zu fördern. Eine wichtige Aufgabe ist es, die Pluralität im politischen Meinungsbildungsprozess sowohl auf nationaler, europäischer und auch auf internationaler Ebene abzubilden.

Siehe Anmerkung zu II (2)

III (5) Die Angebote fördern den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland und unterstützen das Verständnis für die Bedeutung eines Lebens in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Regionale Themen und Schauplätze aller Länder in Deutschland erhalten in den Angeboten ein angemessenes Gewicht

In der Sendung wurde gesellschaftliche Spaltung betrieben (und keineswegs der Zusammenhalt gefördert), indem in populistischer Weise die „arbeitenden Menschen“ (verkürzt auf Erwerbsarbeit) gegen die angeblich „nicht arbeitenden“ Menschen ausgespielt wurden. In der heutigen politischen Situation ein brandgefährliches Spiel.

III (7) Die Angebote fördern die europäische Integration. Sie eröffnen allen Zuschauern die Möglichkeit, sich ein Bild über die deutsche Wirklichkeit zu verschaffen.

Zur deutschen Wirklichkeit gehört der Fakt, dass mehr Arbeitsstunden unbezahlt geleistet werden als bezahlt. Zudem trägt Erwerbsarbeit nicht per se und in jedem Fall zum Wohlstand oder Gemeinwohl bei.

III (8) Im Gesamtangebot ist die Wirkung von Gewaltdarstellungen zu berücksichtigen.
Die Angebote dürfen keine verrohende oder verhetzende Wirkung haben. Die Darstellung von kriminellen Handlungen, Sucht oder Gewalt darf nicht vorbildlich wirken oder zur Nachahmung anregen. Hinweise auf Strafe oder Wiedergutmachung sowie auf Behandlungs- und Heilungsmöglichkeiten sollen nicht fehlen.

Der oben bereits aufgeführt Vergleich von (aus welchen Gründen auch immer) nicht erwerbsarbeitenden Menschen mit faulem Obst hat eindeutig eine verhetzende Wirkung.

Abschnitt IV Qualitätsstandards
IV (2) Die Angebote dienen durch Darstellung der wesentlichen Quellen der eigenen Meinungsbildung.
Sie dürfen dabei nicht durch Weglassen wichtiger Tatsachen, durch Verfälschung oder durch Suggestivmethoden die persönliche Entscheidung zu bestimmen versuchen. Der Quellenschutz ist zu beachten.
Bei der Wiedergabe von Umfragen gibt das ZDF ausdrücklich an, ob es sich um eine repräsentative Meinungsumfrage handelt.

In der Sendung wurden wie bereits oben angeführt wichtige Tatsachen weggelassen.

[...]

Mit freundlichen Grüßen
Eric Manneschmidt

Rückmeldung vom ZDF am 6.5.: Die Beschwerde geht jetzt ihren Gang.

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